Sieh Dir das mal an! Ein Insekt an dem Ort, wo ich beim nächsten rücksichtslos hingetreten wäre. Mit fotographischen Großaufnahmen soll das Bewusstsein für die Natur, mit all ihren Insekten, unbemerkten Organismen und oftmals vernachlässigten Schönheiten wiederhergestellt werden. Der vergessene Glanz der unangetasteten Natur soll dann angeschaut werden können und die Bilder den Verstand des Betrachters aktivieren. Aber wie aktiv ist denn betrachten?
Das Projekt „Makrophotographie“ hat sich bei den Projekttagen dem Anspruch verschrieben, mit der Technik der Telefone, digitalen und sogar einer analogen Kamera, das Kleine im Großen zu zeigen. Der kleine Raum am Eck des ersten Geschosses ist mäßig gefüllt und darin sitzen vor allem Schüler:innen der Mittelstufe vor der referierenden Frau Filon. Belichtungszeit, Blende und Brennweite – technische Grundlagen der Fotographie – und Mittel zur Errettung der Natur?
Dieses Unternehmen steht hinter der ewig grauen Theorievermittlung, an die sich aber immer wieder Zeiten zur praktischen Erprobung der neuen Kenntnisse anschließen. Am ersten Tag soll geübt, am zweiten sollen dann für die Ausstellung beim Schulfest die Werke geschaffen werden. Es herrscht Stille in Raum 101, ab und zu einmal das Geräusch eines digitalen Auslösers und halb leises Lachen.
Die Schüler:innen berichten, dass sie entweder aus Zweit- oder Drittwahl oder weil sie noch nie sich mit Fotographie beschäftigt haben, in dieses Projekt gelangt seien. Damit erfüllt das Projekt eine Funktion, die sicherlich mit der Schule übereinstimmt und sinnvoll ist, gerade bei Themen der Technik und Kunst im weiteren Sinne: einen Zugang schaffen und Potenziale entdecken lassen.
Sie teilen mir auch mit, dass ihnen bei Anfertigung und Betrachtung der Bilder besonders die Kreativität gefällt und sie ihre Ideen zur Gestaltung ausprobieren konnten.
In der Tat rührt das Projekt auch an ein größeres Problem, das sich aus den technischen Eigenschaften der Fotographie selbst ergibt. Mit der Frage, ob man durch das bloße Abbild eines Gegenstandes, der ansonsten selten oder gar nicht gesehen wird, ein Bewusstsein für dessen Existenz und ein Gefühl der Verantwortlichkeit in politischem Handeln erreichen könne, wurden Bände gefüllt. Aber der Anspruch unserer Schule ist sichtlich bescheidener: ein paar schöne Fotographien in einer Diashow zu zeigen; trabendes Geklatsche.
Wie der Tourismus des 21. Jahrhunderts funktioniert die Betrachtung solcher Bilder heute nach eingefahrenen Mustern: gleichgültig, ob man sich Canyons, Urwälder oder Eisbären im Berliner Zoo ansieht, all das firmiert unter dem Motto des Sich-Informierens und des Fremde-Kulturen-und-Umgebungen-Kennenlernens, das mit einer neuen Form des bürgerlichen Genusses sich verbündet. Dieser Genuss ist aber vor dem gewappnet, was er eigentlich selbst zu vertreten hätte: einer radikalen Erfahrung des Anderen, das das Eingefahrene durch sprengt und zeigt, dass der Gegenstand nicht im Medium aufgeht, sondern darüber hinaus politische Aufmerksamkeit und Gegenmaßnahmen erfordert. Dieser Impuls regt sich im schulischen Projekt darin, dass das Sonst-Nicht-Sichtbare derart dargestellt wird, dass man’s endlich einmal sieht, um dann blindlings wieder daran vorbeisehen zu können, wenn es doch eigentlich Aufmerksamkeit erforderte.
Politische Fotographie könnte dem ein Gegenentwurf vorsetzen, der sich nicht diesem Realismus unterordnet, sondern den Geist der Zeit begreift und mit dem Fingerzeig auf die Unfähigkeit des Mediums zur tatsächlichen Darstellung des Problems die Erzählungen der Politiker von der Blindheit der einzelnen Bürger:innen als systematische Blindheit darstellt, die in solcherlei Reden nur die Verantwortung falsch verteilt. Aktiv betrachten bedeutet dann, sich der Einsicht zu stellen, dass Betrachten gerade nicht aktiv ist und nur ein Stolperstein weg von der Kunst darstellen dürfte. Das wäre eine flüchtige Reform des Projekts.
Die Abwehr alles Neuen steckt bei dem Projekt auch in der Tatsache, dass die Fotobearbeitung strikt nicht benutzt werden soll, gemäß Frau Filon handele es sich hierbei um Schummelei. Vielleicht ist Schummelei im Medium einzig noch Mittel zur Wahrheit, um die falsche soziale Praktik zu unterwandern. Der Fairness halber darf man aber den kurzen Zeitraum auch nicht vergessen, der nur ausgewählte technische Grundlagen zu erlernen erlaubt. Und schließlich wird durch das Projekt wohl die Chance auf eine gute Kunstnote erhöht.
Hans Bollweg