Foto: Die Mitglieder der AG bei der Arbeit an einem Plakat.

Ein Interview mit der Queer-AG

Die festgesetzte und eingeschränkte Sicht, dass es nur das männliche und das weibliche Geschlecht gebe, existiert schon lange nicht mehr. Oder doch? Trotz Aufklärung und Protesten ist Queerness für viele immer noch ein Tabuthema und wird häufig als „Abweichung von der Norm“ angesehen. In vielen Bereichen der Gesellschaft wird genderqueeren Menschen auch heute noch vermittelt, dass sie nicht dazu gehören würden, dass sie weniger wert, dass sie nicht normal seien. Viele Menschen denken auch heute noch in alten Mustern, die keinen Platz für mehr als zwei Geschlechter bieten und das Leben queerer Personen extrem erschweren. Tagtäglich werden sie mit Anfeindungen und Hass konfrontiert — ob auf Social Media oder auf dem Schulhof. Einen sogenannten „Safe Space“, also einen sicheren Raum, bietet die Queer-AG bei uns am Johanneum, die von Pascal Mennen gegründet wurde und sich seit vier Jahren aktiv mit dem Thema LGBTQ* beschäftigt. Ihre elf Mitglieder arbeiten jeden Montag an Projekten zu verschiedensten Bereichen des Themas und tauschen sich über ihre Erfahrungen und Erlebnisse aus.

„Genderqueer — was bedeutet das eigentlich?

Der Begriff „Genderqueer“ beschreibt zum einen Personen, die nicht der Norm des binären Geschlechtersystems entsprechen, also der Sicht, dass es nur das männliche und das weibliche Geschlecht gebe. Zum anderen kann der Begriff aber auch eine individuelle Geschlechtsidentität bezeichnen. Die Geschlechtsidentität beschreibt, mit welchem Geschlecht sich ein Mensch identifiziert. Dieses muss aber nicht mit dem biologischen Geschlecht übereinstimmen, welches einem Menschen von Geburt aus zugewiesen wird. Personen mit einer queeren Geschlechtsidentität identifizieren sich demnach entweder sowohl als Mann und Frau gleichzeitig oder fühlen sich weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zugehörig. Die Abkürzung LGBTQ* oder LSBTQ*, wie man es im Deutschen bezeichnen kann, wird als Überbegriff für jegliche Formen der Anziehung zwischen Menschen und für ihre Geschlechtsidentitäten verwendet. Sie steht für lesbisch, schwul, bi*, trans*, inter* und queer.

„Safe Space“

Die Queer-AG möchte einen Ort schaffen, an dem sich queere Personen wohlfühlen können und nicht das Gefühl haben, ihre Identität verstecken zu müssen. Hier können sie über ihre Erfahrungen und Probleme sprechen, ohne dass sie dafür verurteilt werden. Hier bekommen sie eine Stimme und werden verstanden. „Ich habe einen Ort gefunden, an dem ich hundert Prozent ich selbst sein kann“, erzählt Bee. Sich sicher fühlen oder offen über ihre Geschlechtsidentität sprechen, können sie außerhalb dieses Raums nicht überall, beispielsweise, wenn sie in einem Haushalt leben, wo das Thema „Queer“ tabu ist. Aber auch am Johanneum herrsche aus ihrer Sicht kein ausschließlich offenes Klima. So bekommen sie zwar meist positives Feedback bezüglich der AG, aber werden persönlich mit vielen negativen Reaktionen, vor allem von Schüler*innen, konfrontiert, sodass sie alltäglich mit der Angst zur Schule gehen, verurteilt zu werden. Ihnen werden in Gruppen respektlose Beleidigungen hinterhergerufen, beispielsweise wenn sie nach einem ihrer Treffen den Raum verlassen. „Das ist nicht in Ordnung und man sollte aktiv etwas dagegen tun“, betonen sie. Auch von einigen Lehrkräften fühlen sie sich nicht vollständig akzeptiert. Mehrmals sei es ihnen beispielsweise passiert, dass Lehrkräfte ihre veränderten Pronomen, also die Wörter mit denen sie bezeichnet werden möchten, nicht akzeptierten und ihrer Bitte, sie anders anzusprechen, nicht nachkamen. So berichten sie, dass sie schon erlebt hätten, wie eine Lehrkraft ein aufgestelltes Namensschild mit den richtigen Pronomen als Schwachsinn bezeichnete. Meist seien falsche Ansprachen und diskriminierende Äußerungen allerdings nicht böse gemeint, da sie aus Unwissenheit und stereotypischem Denken entstehen würden. Doch aufgrund solcher Vorfälle, trauten sich die Mitglieder der AG, aus Angst vor einer negativen Reaktion oder einer anderen Behandlung, häufig nicht, sich vor Lehrkräften zu outen.

Pride Flag in der Schule?

Es ist Juni und damit wieder Pride Month. Ein Monat, in dem weltweit geschlechtliche und sexuelle Vielfalt gefeiert und ein Zeichen gegen Hass und Diskriminierung der LGBTQ*- Gemeinschaft gesetzt wird. Dieses Jahr hängt auch am Johanneum wieder eine „Pride Flag“ im Forum. So war es allerdings nicht jedes Jahr. Doch warum zeigte das Johanneum nicht schon seit der Gründung der Queer-AG Toleranz durch das Hissen einer Regenbogenflagge? Erst seit 2023 ist es ausdrücklich erlaubt und erwünscht diese Flagge an Schulen zu hissen. Dies sei allerdings keine Entscheidung der Schule, sondern werde in einem Flaggenerlass des Kultusministeriums genau geregelt, betont unsere Schulleiterin Frau Lindemann. Hier sei festgelegt, welche Flaggen zu welchen Anlässen in einer Schule aufgehängt werden dürfen. Die Schulleitung könne daher das Aufhängen einer Flagge nicht einfach „von heute auf morgen“ bestimmen, sondern müsse dies genau planen und sich an die Regelungen halten, in denen das Aufhängen einer Regenbogenflagge zuvor nicht genannt wurde. Frau Lindemann begrüßt es sehr, dass nun keine rechtlichen Unklarheiten mehr vorliegen und die Flagge seit der Ergänzung des Flaggenerlasses immer in der Schule präsentiert werden könne. Begeistert betont sie: „Ich finde es ganz toll, dass die Schule die Flagge zeigt!“

Hass in den Sozialen Medien

In den sozialen Medien kursieren viel Hass und Anfeindungen gegenüber Minderheiten. So auch gegenüber genderqueeren Personen. Das erlebten auch die Schüler*innen der AG bei einem Video auf dem Instagram-Account des Johannems, in dem sich die AG vorstellt. Das Video traf einerseits auf viele positive Reaktionen und Kommentare, beispielsweise von dem Influencer Fabian Grishcat, der seine Begeisterung für die AG aussprach und sich eine solche Gruppe in seiner Jugend gewünscht hätte. Allerdings reagierten auch viele Instagramnutzer mit heftigen Hate-Kommentaren. Darunter waren beispielsweise hasserfüllte Memes, auch von Personen, die sich dem rechten Spektrum zuordnen lassen. Herr Czempik, der den Instagram-Account führt, hat daraufhin die meisten dieser Kommentare gelöscht. Die Mitglieder der AG erzählen, sie seien schockiert über die beleidigenden Reaktionen, könnten aber im Endeffekt nichts gegen den Hass auf Social Media ausrichten und hätten zudem „nicht so viel Kraft dazwischen zu gehen“. 

„Queere Helden“

Warum ist der Hass immer noch so groß? Warum gehen auch Schüler*innen des Johanneums nicht respektvoll miteinander um und diskriminieren andere aufgrund ihrer Geschlechtsidentität? Liegt es an der Unwissenheit und dem fehlenden Verständnis der Schüler*innen und auch mancher Lehrer*innen bezüglich des Themas? Durch Aufklärung versucht die Queer-AG daher mehr Akzeptanz zu schaffen, da Kommunikation die einzige Möglichkeit sei, die Distanz, die ohne Berührungspunkte mit dem Thema bestehe, zu überbrücken. Sie gestalten Plakate mit Informationen über diverse Themen aus dem LGBTQ-Bereich, die sie in einer Vitrine im Forum ausstellen. Aktuell hängt dort ein Plakat über „Queere Helden“, wie zum Beispiel Freddie Mercury, der Lead-Sänger der Band Queen, der besonders durch seinen ausgefallenen Kleidungsstil und seine Songtexte, die offen damalige Tabuthemen thematisierten, ein Vorbild für die LGBTQ*-Community ist. Auch Kasha Nabageseras bewegende Geschichte lässt sich auf dem Plakat nachlesen. Die ugandische Menschenrechtsaktivistin setzt sich in ihrer Heimat öffentlich für die Anerkennung homosexueller Menschen ein und wird daher von der Regierung verfolgt und bedroht. Leider werden immer wieder Teile der Plakate von Schüler*innen abgerissen. „Wir würden uns wünschen, dass unsere Plakate nicht mutwillig zerstört werden“, erklärt Lake. Sie und die anderen sind enttäuscht, dass ihre investierte Arbeit nicht respektiert wird, denn selbst, wenn sich manche nicht damit beschäftigen wollten, brauchten sie die Plakate noch lange nicht beschädigen und anderen Interessierten das Anschauen verwehren. 

Außerdem plant die Queer-AG, die von Frau Seyppel unterstützt und im Lehrerzimmer vertreten wird, zusammen mit der Englischfachgruppe ein Projekt über „Label“, Begriffe wie „queer“ und „lesbisch“, die verwendet werden, um die Vielfalt sexueller Orientierungen und Geschlechtsidentitäten auszudrücken. Im Englischunterricht sollen verschiedene Klassenstufen über das Labeln von Personen und die damit verbundenen Vor- und Nachteile sprechen und am Ende einer Doppelstunde das Gelernte in einer Fotoaktion umsetzen. Daneben findet am Johanneum jedes Jahr ein Präventionsworkshop für die neunten Klassen statt, in dem die Schüler*innen von LGBTQ*-Personen über das Thema informiert werden. Die Schüler*innen der AG kritisieren jedoch, dass die Anzahl der Unterrichtsstunden, in denen LGBTQ*-Themen behandelt werden, trotzdem noch zu gering sei.

Was können wir tun, um queere Personen am Johanneum zu unterstützen?

„Wir wünschen uns, dass Queerness als so normal angesehen wird, wie es ist“, betont Bee unter Zustimmung der anderen. Sowohl Schüler*innen als auch Lehrkräfte sollten sie so akzeptieren, wie sie sind, sodass sie auch außerhalb ihres Safe Spaces nicht das Gefühl haben, sich für ihre Geschlechtsidentität schämen zu müssen oder ausgeschlossen zu werden. 

Einige der Schüler*innen haben ihre Namen geändert, da sie sich mit ihrem alten Namen nicht mehr vollständig identifizierten. Ihnen ist es deshalb wichtig, dass diese Namensänderungen sowie ihre veränderten Pronomen respektiert und vor allem von Lehrkräften so gut wie möglich umgesetzt werden. Außerdem solle niemand Scheu davor haben Fragen zu stellen, da es besser sei einfach nachzufragen, als ihre Wünsche zu ignorieren oder sie aus Unwissenheit zu diskriminieren.

Unsere Gesellschaft ist vielfältig und geprägt von verschiedenen Identitäten, die nicht nach Normen unterteilt werden können. Bis dies allerdings von der Mehrheit so akzeptiert wird, ist es noch ein langer Weg. AGs wie unsere am Johanneum tragen dazu bei, dass die Entwicklung hin zu mehr Akzeptanz und Offenheit vorangetrieben wird. Auch jeder einzelne Schüler und jede einzelne Schülerin kann dabei helfen, indem er oder sie aufhört, andere anhand ihrer Identität in Kategorien einzuteilen und stattdessen jede Geschlechtsidentität, egal ob sie mit dem biologischen Geschlecht übereinstimmt oder nicht, respektiert.

Tipps und Unterstützung
Du fühlst dich nicht wohl mit deinem Geschlecht und hast das Gefühl, du könntest queer sein? Du bist aber unsicher, wie du mit diesem Gefühl umgehen sollst und wie du dich informieren kannst?
Die Schüler*innen der Queer-AG raten jungen Menschen, die unsicher sind, zuallererst nicht in Stress zu verfallen. Seine eigene Identität zu finden sei ein Prozess und man sollte ihm seine Zeit geben. Was immer helfen kann, ist ein „Safe Space“, in dem man seine Gedanken loswerden und sich mit Gleichaltrigen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, austauschen kann. Jede Person sei in der Queer-AG willkommen, egal, ob man sich noch unsicher ist, oder die AG einfach nur unterstützen möchte. Ein Treffpunkt für queere Menschen in Lüneburg bietet zudem der „Checkpoint Queer“, der Beratungen und Unterstützung anbietet. Dort kann man auch in einer Bibliothek mit Büchern über Queerness stöbern.
Einigen Schüler*innen hat es auch geholfen, sich vorzustellen, wie sie gerne leben würden, wenn sie nicht von gesellschaftlichen Zwängen eingeschränkt wären. Außerdem haben sie, auch, wenn es am Anfang schwierig erschien, einfach ausprobiert mit welcher Geschlechtsidentität sie sich am stärksten identifizieren, zum Beispiel, indem sie verschiedene Pronomen benutzt haben.

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