Bild der Veranstaltung: Viele der Anwesenden haben vor über fünfzig Jahren ihr Abitur am Johanneum gemacht
Wie stark war der NS-Einfluss am Johanneum in der Nachkriegszeit?
Es ist das Jahr 1945. Nach fast sechs Jahren Krieg tritt am 8. Mai die Erklärung der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands in Kraft. Es ist das Ende eines Krieges, der das Leben von über 60 Millionen Menschen kostete. Die Alliierten befreien Deutschland von der nationalsozialistischen Herrschaft und teilen es in vier Besatzungszonen auf. Lüneburg liegt in der britischen Zone, so auch das Johanneum. Am 1. Oktober 1945 wird hier der Schulbetrieb, der im Zuge der Besetzung durch die Alliierten eingestellt worden war, wieder aufgenommen. Jeder Lehrer wird vor der Wiedereinstellung in den Schuldienst von der britischen Militärregierung auf seine Aktivitäten während der Zeit des Nationalsozialismus überprüft.
Wie viele Lehrer haben sich am Johanneum am Nationalsozialismus beteiligt? Wie gestaltete sich das Schulleben in der Nachkriegszeit? Und was berichten ehemalige Schüler?
Am 21.05.2024 berichtete der Historiker und ehemalige Schüler des Johanneums Dr. Bernd Rother über die NS-Vergangenheit unserer Schule und stellte anhand von drei Jahren die Entwicklungen in der Nachkriegszeit dar. Seine Forschungen zeigen, wie lange das „Dritte Reich“ noch Auswirkungen auf das Johanneum hatte. Die Vortrags- und Diskussionsveranstaltung, die schon einmal im Januar stattgefunden hatte, fand in Zusammenarbeit mit der SPD im Museum Lüneburg statt. Viele ehemalige Schüler waren anwesend, die Vieles, was berichtet wurde, selbst miterlebt hatten.
Entnazifizierung Deutschlands
Den Alliierten war es sehr wichtig, die deutsche Gesellschaft von nationalsozialistischen Einflüssen zu befreien und ein demokratisches System zu etablieren. Zum einen wurden die NSDAP und weitere nationalsozialistische Organisationen aufgelöst und Nationalsozialisten aus der öffentlichen Verwaltung und anderen Positionen ausgeschlossen. Zudem wurden alle nationalsozialistischen Gesetze außer Kraft gesetzt, Nazi-Symbole aus dem öffentlichen Raum entfernt und Straßennamen geändert. Zum anderen sollte die deutsche Bevölkerung entnazifiziert werden. Ein wichtiges Mittel dabei war ein Fragebogen, mit dem die Tätigkeiten und Stellungen im Nationalsozialismus abgefragt wurden. Daraufhin wurden die Menschen in verschiedene Kategorien eingestuft, nach denen sich das weitere Verfahren richtete, beispielsweise eine Inhaftierung bei „Hauptschuldigen“ oder ein Berufsverbot bei weniger Belasteten.
Wie war das Ergebnis für das Johanneum?
Im Zuge der Entnazifizierung wurde auch das Lehrerkollegium des Johanneums, welches zu der Zeit ein reines Jungengymnasium war, an dem ausschließlich männliche Lehrer unterrichteten, auf seine Aktivitäten überprüft. Dabei ergab sich ein erschreckendes Ergebnis: „[Wir kommen] für die 49 Lehrkräfte des Johanneums in der Nachkriegszeit auf einen Anteil von 73 % ehemaliger NSDAP-Mitglieder, während der Anteil in der erwachsenen Gesamtbevölkerung nur bei etwa 15 % lag“, so Bernd Rother.
Einer dieser Lehrer war zum Beispiel Sigurd Pulwer. Mit neunzehn Jahren habe sich dieser im Jahr 1928 der noch unbedeutenden NSDAP und der SA (kurz für Sturmabteilung) angeschlossen. 1943 sei er Lehrer am Johanneum geworden. Am Kriegsende geriet er jedoch in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Rückkehr unterrichtete er wieder am Johanneum. Im Fragebogen zur Entnazifizierung habe Pulwer nichts beschönigt oder verheimlicht, weshalb er 1947 aus dem Schuldienst entlassen worden sei. Zwei Jahre später wurde Pulwer allerdings von der Stadt Lüneburg auf Probe wieder als Lehrer eingestellt. Ein ehemaliger Schüler berichtete, das Pulwer deutliche Sympathien für den Nationalsozialismus zum Ausdruck gebracht haben soll. Zum Beispiel solle er betont haben, dass er sich nach „dieser furchtbaren Enttäuschung“ nie wieder politisch engagiert hätte.
Die Entnazifizierung der Lehrer war mit vielen organisatorischen Problemen verbunden. Die meisten Lehrer mussten im Nationalsozialismus Parteimitglieder werden, um unterrichten zu können, weshalb die konsequente Umsetzung eines Entnazifizierungsprogramms den Schulbetrieb erheblich gestört hätte. Aufgrund des großen Lehrermangels wurden daher viele ehemalige Parteimitglieder wieder eingestellt, so wie es bei Pulwer der Fall war, aber auch Pensionäre zurück an die Schulen geholt.
„Schwarze Pädagogik“
Wie lässt sich jedoch die Nachkriegszeit am Johanneum beschreiben? War die Schule immer noch vom Geist des Nationalsozialismus geprägt?
„Die Mehrzahl unserer Lehrer kehrte zu rechtskonservativen Überzeugungen der Vor-Nazizeit zurück“, erklärt Bernd Rother. Diese gingen mit altertümlichen Lehrmethoden mit körperlichen Übergriffen und „schwarzer Pädagogik“ einher. „Schwarze Pädagogik“ ist eine von der Publizistin Katharina Rutschky geprägte Bezeichnung, die Erziehungsmethoden, die mit Strafen, Kontrolle, Gewalt und Demütigungen verbunden sind, beschreibt. Davon berichteten auch ehemalige Schüler gegen Ende der Veranstaltung. So wurde von „fliegenden“ Schlüsselbunden, aggressivem Verhalten der Lehrerschaft und entwürdigenden Bemerkungen gesprochen.
Auch der Nationalsozialismus hatte aufgrund der hohen Anzahl an ehemaligen NSDAP-Mitgliedern, zu denen auch der Schulleiter gehörte, einen Einfluss auf die Schule und die Werte, die den Schülern vermittelt wurden. „Die Lehrer haben uns geprägt. Auch wenn sie keine Naziparolen sagten, wurden uns Inhalte unterschwellig mitgegeben“, erzählt einer der Ehemaligen. Dies zeigt, wie stark Schule Menschen für ihr Leben prägen kann – im positiven als auch im negativen Sinne – sodass sich Schüler*innen noch im hohen Alter an Erlebnisse aus ihrer Schulzeit erinnern können. Daher war es sehr beeindruckend zu sehen, welche Emotionen Rothers Erzählungen bei den ehemaligen Schülern ausgelöst haben.
Doch wie haben Lehrer*innen die Nachkriegszeit erlebt?
Ich habe eine ehemalige Lehrerin der Wilhelm-Raabe-Schule, die im Jahr 1954 als Referendarin an der Schule anfing, gefragt, wie sie die Nachkriegszeit dort erlebt hat: Da das Lehrerkollegium ähnlich wie am Johanneum vorwiegend aus älteren Lehrer*innen bestand, stach sie als eine von zwei jungen Lehrerinnen besonders hervor und wurde von den Schüler*innen dankbar empfangen. „Ich habe die Zeit an der Wilhelm-Raabe-Schule als wunderschön empfunden. Ich wurde dort mit offenen Armen aufgenommen und es herrschte ein unglaublich harmonischer Geist, vor allem, da die Schulleiterin sehr großzügig war und uns viele Freiheiten ließ“, berichtete sie mir. Allerdings betonte sie zudem, dass sie nur genau wisse, was in ihrem Klassenzimmer vorgegangen sei und über den Unterrichtsstil ihrer Kollegen eher wenig Bescheid wisse. Zu ehemaligen Parteimitgliedern unter den Lehrern erzählte sie mir: „Mir war bewusst, dass es auch an der Raabe-Schule Lehrer mit nationalsozialistischem Gedankengut gab, allerdings wurden Thesen und Überzeugungen des Nationalsozialismus nicht offen geäußert.“ Außerdem sei der Nationalsozialismus in der Schule, wie auch in der Gesellschaft Deutschlands lange kein Thema gewesen, sodass größtenteils nichts aufgearbeitet und kritisch analysiert worden sei. Dies hänge unter anderem mit dem „Wirtschaftswunder“, also dem steilen wirtschaftlichen Aufstieg in Westdeutschland in den fünfziger Jahren, zusammen, durch das die Beschäftigung mit dem Thema in den Hintergrund gerückt sei.
Der Wandel
In den 1970ern setzte am Johanneum mit dem Wechsel des Schulleiters von einem ehemaligen NSDAP Mitglied zu einem SPD-Mitglied ein Wandel ein. Auch die Pensionierung der „NS-Generation“, die durch viele jüngere Lehrkräfte, unter denen sich erstmals auch vermehrt Lehrerinnen befanden, ersetzt wurden, habe laut Rother dazu beigetragen, dass „sich das Johanneum einer völlig neuen Zeit hingab“. Heute steht unsere Schule für Vielfalt, Toleranz und Offenheit, und es ist nichts mehr vom Geist der Vergangenheit zu spüren. Trotzdem ist es wichtig, sich mit der NS-Vergangenheit der Schule zu beschäftigen, wozu der Vortrag Rothers einen großen Beitrag geleistet hat.